Zum Inhalt springen

Michael Babics

Durch den Wald zu den Ideen blicken
Rede zur Ausstellung Psychiatrie Liestal 2015
Gido Wiederkehr, Barbara Peyer

Wir blicken in einen Wald. Es stehen zahlreiche Bäume vor uns. Grosse kräftige und noch kleine schwache, sich empor in den Himmel streckende und bereits am Boden liegende. Stellen wir uns vor, jeder Baum steht für eine persönliche Idee. Diese Idee wartet nur darauf realisiert zu werden. Da wir uns nicht allen Ideen gleichzeitig widmen können, müssen wir uns unter den vielen Bäumen für einen Baum und damit für eine Idee entscheiden.

Ähnlich geht es vielen Künstlern, wenn sie ein neues Werk beginnen. Sie stehen vor einem Wald von Ideen. Was wird skizziert, was realisiert und was auf die Seite geschoben?

Um den Überblick im Wald nicht zu verlieren, verfolgen Gido Wiederkehr und Barbara Peyer eine ähnliche Praxis. Sobald eine Idee erscheint, wird sie zu einer Skizze oder einem Entwurf verarbeitet. Dies heisst jedoch nicht, dass gleich ein neues Werk begonnen wird.

Während ihres langjährigen Schaffens haben beide viele nicht realisierte Entwürfe angefertigt. Bei Gido Wiederkehr sind es detaillierte Entwürfe in Öl auf Papier, die bis in die 1970er-Jahre zurückreichen und noch heute schön geordnet aufbewahrt werden. Bei Barbara Peyer sind es schnell entstandene Entwürfe in Bleistift auf Papier, die im Verlaufe der Zeit zu einem grossen Stapel angewachsen sind. Auf diese Sammlung von Entwürfen können beide wie aus einem persönlichen Bildarchiv jederzeit zurückgreifen. Bei beiden Künstlern findet beim Bildfindungsprozess eine Art von Rückbesinnung auf alte Ideen beziehungsweise auf schon kräftig gewachsene Bäume statt. Das Stöbern im eigenen Bildarchiv und das Suchen und Finden in der von ihnen kreierten Bildgeschichte ist wie ein Spaziergang im von ihnen gestalteten und noch immer weiter wachsenden Bilderwald.

Gido Wiederkehr. Im Wald von farbigen Linien

In vielen bisherigen Ausstellungen hat Gido Wiederkehr nicht nur neue Arbeiten gezeigt. Oft wurden neue Werke mit älteren kombiniert, so dass die Entwicklung innerhalb seines Schaffens für den Besucher nachvollzogen werden konnte. In dieser Ausstellung sind Gemälde zu sehen, die auf Entwürfe aus den 1970er-Jahren zurückgehen. Seine damalige Arbeitsweise bestand darin, Entwürfe auf Papier in kleinem Format anzufertigen, die anschliessend grossformatig in ihren definitiven Zustand gebracht wurden. Einige dieser Entwürfe sind jedoch nie über ihren Anfangsstatus hinausgekommen und haben noch keine Realisation erfahren. Sie schlummerten jahrelang in Kartonschachteln und warteten darauf, reaktiviert zu werden. In jüngster Vergangenheit hat Gido Wiederkehr einige dieser nicht realisierten Entwürfe aus der Schatulle genommen und vollendet. Er sieht diese Werke nicht als neue Arbeiten an, sondern als eine Art Rückblick auf sein vergangenes Schaffen.

Seine Arbeitsweise hat sich im Verlaufe der Zeit verändert. Während in seiner künstlerischen Anfangszeit für jedes Bild ein genauer Entwurf existierte, hat er später gänzlich ohne Entwurf gearbeitet und das Bild während dem Malprozess stetig verändert und neu komponiert. Heute arbeitet Gido Wiederkehr wieder mit Gedankenskizzen. Wenn ihm während der Arbeit Ideen für neue Bildentwürfe kommen, notiert oder skizziert er diese in lockerer Manier auf ein Stück Papier, um die Bildidee festzuhalten und sich später an diese zu erinnern.

In Gido Wiederkehrs Arbeitsweise bildet der stetige Rückblick auf das vergangene Schaffen eine zentrale Stütze. An einer grossen Wand im Atelier werden neue Arbeiten neben ältere gehängt. So zeigt es sich im Verlaufe der Zeit, ob eine Arbeit, wie Gido Wiederkehr sagt, „verhebt“. Wenn gewisse Werke dem täglichen prüfenden Blick nicht standhalten können, werden sie einer neuen Bearbeitungsphase unterzogen. Bei einigen Werken sind diese Zwischenschritte auf der Rückseite vermerkt, so dass der Entstehungsprozess nachverfolgt werden kann.

Neben dem Rückblick auf die Vergangenheit blickt Gido Wiederkehr auch immer nach vorne und entwickelt stetig neue Bildkonzepte. Zu seinen neuesten Werken gehören Rasterbilder, von welchen einige hier in der Ausstellung zu sehen sind. Diese sehen aus wie eine Verflechtung von verschiedenen Farbstreifen, die übereinander und ineinander gefügt wurden. Streifen legen sich über Streifen. Farbe wirkt mit Farbe. Ein Netz, das unsere Netzhaut flimmern lässt. Die Bilder sind auf einem orthogonalen Grundraster von Linien in einem Abstand von 1 bis 2 Zentimeter aufgebaut. Darüber werden parallele Farbstreifen in unterschiedlicher Länge mit Hilfe einer Reisfeder gezogen. Gido Wiederkehr ist es wichtig, dass die Linien nicht absolut gerade wie mit dem Lineal gezogen erscheinen, sondern dass ganz feine Unregelmässigkeiten erkennbar sind. Das Handwerk soll spürbar bleiben. Dies führt bei der Betrachtung dazu, dass die Linien leicht vibrieren, als ob Licht durch das dicht gewobene Blätterdach eines Waldes scheinen würde.

Barbara Peyer. Von den Linien zum Wald der Farben

Wald ist eines der zentralen Themen in den neuen Werken von Barbara Peyer. Der Grund, sich vertieft mit dem Thema Wald zu beschäftigen, war ein Erlebnis in Ghana. Barbara Peyer reist sehr gerne und wenn möglich oft, was sich auch in ihrer Malerei niederschlägt. Einige ihrer Reisen haben in der von ihr geschaffenen Bilderwelt Eingang gefunden. In Ghana traf sie auf einen Mann, der sich zum Ziel gesetzt hatte, einen kleinen Teil des durch die voranschreitende Rodung verlorenen Waldes wieder anzupflanzen. Ein Teil seines ambitionierten Projektes war bereits umgesetzt und so konnte man in einem parkähnlichen Wald, der von Wegen durchzogen war, die neu wieder auferstandene Natur geniessen. Während ihres Aufenthaltes in Ghana unternahm Barbara Peyer viele Spaziergänge unter dem neu entstandenen Blätterdach und liess sich auf einen Dialog mit der umliegenden Natur ein. Dieses prägende Erlebnis und ein gleichzeitig aufkommendes Verlangen wieder mehr Bewegung in ihre Bilder zu bringen, bildete den Einstieg in die Beschäftigung mit Waldbildern.

Während der Bildfindung fertigt Barbara Peyer kleine Bleistiftskizzen an, die sehr grosszügig die Komposition eines Bildes vorbestimmen. Im Laufe der Zeit ist eine grosse Sammlung an Skizzen entstanden. Ähnlich der Praxis von Gido Wiederkehr nimmt auch Barbara Peyer gelegentlich eine bereits vor längerer Zeit entstandene Skizze hervor und benutzt diese als Anhaltspunkt für ein neues Gemälde. Im Gegensatz zu Gido Wiederkehrs älteren Skizzen, welche ein Bild schon fertig definierten und wo Komposition und Farbe bereits festgelegt waren, sind die Skizzen von Barbara Peyer ohne Kolorierung gehalten. Die Farben werden erst während des Malprozesses bestimmt und können sich während diesem auch immer wieder ändern.

Die intensive Farbigkeit, welche die Bilder von Barbara Peyer prägt, ist also das Resultat eines dauernden Abwägens und Experimentierens während des Malprozesses. Die vertiefte und ihr sehr wichtige Auseinandersetzung mit der Farbe zeigt sich in ihrem Werdegang. Bei Georg Kremer, einem Meister der Farbe in München, bekam sie einen tiefen Einblick in die Lehre der Farbproduktion. Heute experimentiert sie mit einer Palette von mit Pigmenten selbstgemischten und gekauften Ölfarben (einige von Russland), mit Lackfarben und Tempera, wobei bei einem Bild die unterschiedlichsten Malfarben zusammenfinden können.

Auf einem Bild ist ein kleines Boot zu sehen, in welchem drei männliche Personen stehend rudern. Während das Boot ruhig im Wasser liegt, ist die Umgebung in Bewegung begriffen. Das Wasser und die umliegende Uferlandschaft sind in expressiven Farben gehalten. In der Form einer grossen Welle strebt das Wasser Richtung Land und einige Äste biegen sich im fast spürbaren über die Landschaft fegenden Windzug. Die beinahe ast- und blätterlosen Bäume sind bloss von feinen Umrisslinien geprägt. Ihre Farblosigkeit trägt dazu bei, dass sie sich in ihrer Materialität aufzulösen scheinen. Es bleiben viele Fragen offen: Wo sind wir? Wer sind diese Personen?

Während wir uns diese Fragen stellen, werden wir uns bewusst, dass wir immer noch vor einem Wald von Ideen stehen und uns noch immer nicht entschieden haben. Haben wir jedoch den Entscheid nicht schon lange gefällt? Angezogen von den verlockend wirkenden Wäldern von Gido Wiederkehr und Barbara Peyer, die in dieser Ausstellung so wunderbar ineinander wachsen, haben wir uns für einen Spaziergang durch den Wald der Linien und Farben entschieden. Und dieser Spaziergang hält noch weiter an. Eine gute Entscheidung.

Michael Babics

zurück